Auf die Polyvagal-Theorie bin ich zum ersten Mal 2019 über den Polyvagal Podcast mit Justin Sunseri gestoßen. Da ich mich viel mit der Verarbeitung und Regulierung von Trauma über das Nervensystem beschäftige, hat das Thema damals direkt mein Interesse geweckt. Die Polyvagal-Theorie wurde 2010 von Dr. Steven Porges veröffentlicht. Sie erklärt, wie unser Körper Gefahren im Alltag und im sozialen Miteinander aufnimmt und verarbeitet.
Wie wir Gefahrensituationen aufnehmen und verarbeiten, geschieht zunächst ohne unser bewusstes Zutun. Dieser Mechanismus wird auch als Neurozeption bezeichnet. Laut der Polyvagal-Theorie gibt es drei evolutionär festgelegte Stufen, die über einen Zustand von Stress und Gefahr oder Sicherheit bestimmen. Ist dieses System dysreguliert, so können Inputs aus unserer Umwelt so auf unser Nervensystem einwirken, dass wir automatisch Gefahr wahrnehmen. Selbst, ohne dass diese vorhanden sein muss. Den Anfang macht dabei unser Vegetatives Nervensystem (ANS). Es regelt zentral, wie unser Körper mit Stress und Gefahr umgeht.
Polyvagal-Theorie: unser autonomes Nervensystem
Unser autonomes Nervensystem erhält, verarbeitet und integriert Input innerhalb unseres Körpers, oder aus unserer Umwelt. Das ganze geschieht vollkommen unwillkürlich, unterliegt also nicht direkt unserer bewussten Kontrolle (Neurozeption).
Die Funktion des autonomen Nervensystems ist es, unsere innere wie äußere Umgebung aufzunehmen, zu evaluieren und, wenn möglich, zu regulieren. So entscheidet es im Wesentlichen darüber, wie kohärent, also ‚in Sync‘ wir mit uns und unserer Umwelt sind: wie wohl und sicher wir uns in unserer Aussenwelt bewegen. Jede autonome Antwort unseres Nervensystems auf seine äußere und innere Umgebung hat dabei eine einzige Aufgabe, die sie auch ganz hervorragend erledigt: unser Überleben zu sichern. Der ganze Prozess läuft also aus gutem Grund ab. Bei Gefahr werden dabei körperliche Reaktionen wie Anspannung, erhöhte Aufmerksamkeit, schnellere Atmung oder eine erhöhte Herzfrequenz in Gang setzt, so dass wir bestmöglich mit der Bedrohung umgehen können.
Autonomes Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus
Wie du vielleicht vermuten kannst, haben Sympathikus und Parasympathikus zwei ganz gegensätzliche Funktionen die sie in unserem Körper erfüllen.
Rolle des sympathischen Nervensystems
Das sympathische Nervensystem ist vor allem für Gefahrensituationen zuständig. So rüstet es deinen Körper für ‘Kampf oder Flucht’. Dafür werden u.a. Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet. Bei Belastung kann kurzzeitig die Leistung des Körpers gesteigert werden so dass wir bestens auf die anstehende Gefahr gerüstet sind.
Unser parasympathisches Nervensystem
In Ruhe und Entspannung springt unser parasympathisches Nervensystem ein. Ist dieses System aktiv, kann unser Körper sich wieder dem inneren Aufbau, einem geregeltem Stoffwechsel und unserer Gesundheit widmen. Er wird deshalb auch der ‘Ruhenerv’ oder ‘Entspannungsnerv’ genannt. Jedoch springt der Parasympathikus nicht nur bei Sicherheit ein, worauf ich gleich noch mal genauer eingehen werde.
Beide Systeme, Parasympathikus und Sympathikus, können gleichermaßen einspringen und aktivieren Funktionen im Körper, die unser Überleben bei Gefahr sichern sollen. Optimal kann unser Nervensystem leicht zwischen diesen Zuständen hin- und herpendeln. Zum Problem wird es, wenn wir aber aus irgendeinem Grund nicht in der Lage sind, diese Balance zu halten oder selbst in sicheren Situationen mit Gefahr reagieren. Du wirst gleich erfahren warum da so ist, denn hier kommt die Polyvagal-Theorie zum Einsatz.
Drei Ebenen der Polyvagal-Theorie: Soziales Engagement, Kampf/Flucht – und Immobilität
Die Antwort unseres Nervensystems auf unsere Umwelt mit ‘Kampf oder Flucht’ bei Stress oder ‘Ruhe und Entspannung’ bei Sicherheit dürfte den meisten soweit bekannt sein. Nach neueren Erkenntnissen unter anderem dank Dr. Peter Levine und Dr. Steven Porges ist diese Aufteilung aber nicht ganz komplett, sondern wird noch um eine weitere Ebene erweitert.
Das Parasympathische Nervensystem verläuft hauptsächlich über den Vagusnerv welcher wie auf einer Autobahn zwischen Gehirn und viszeralen Systemen Informationen verteilt. Der Parasympathikus teilt sich demnach in zwei Teile, einen ventralen Zweig (zur Vorderseite des Körpers), sowie in einen dorsalen Zweig (zur Rückseite hin).
Während der ventrale Zweig des Vagusnervs für den uns bekannten pro-sozialen Modus von Ruhe, Sicherheit und ‘sozialem Engagement’ zuständig ist, regelt der dorsale Strang einen ganz anderen Zustand: Freeze und Immobilität. Genau wie beim ventralen-vagalgen Zweig mit Sozialen Engagement besteht hier also ein Zustand von Ruhe (Parasympathikus), jedoch gekoppelt mit großer Angst und einem Gefühl von Ausweglosigkeit.
Hiernach stellt Dr. Steven Porges das System der Polyvagalen Leiter mit seinen hierarchisch angeordneten Subsystemen des autonomen Nervensystems vor.
Was ist die Polyvagale Leiter?
Wie bei einer Leiter werden die drei Ebenen des autonomen Nervensystems hierarchisch aufgeteilt von pro-sozialem Engagement / Sicherheit über Kampf / Flucht zu Immobilität und Dissoziation.
Systeme der Polyvagalen Leiter: Ventral – Vagal, Sympathisch, Dorsal-Vagal
1. Ventral- Vagal: Sicherheit und Soziales Engagement
Der ventrale Zweig des parasympathischen Nervensystems steuert unser Sozial-, Bindungs-, und Beziehungsverhalten. Evolutionär gesehen ist dieser Modus gleichzeitig auch der jüngste. Das System sozialen Engagements ist vor allem zuständig für die Steuerung der Gesichtsmuskeln. Dadurch können wir schnell und einfach mit unserer Aussenwelt in Verbindung treten und Reize aus der Umwelt wahrnehmen.
Das ventral-vagale System ist aktiv, wenn wir uns sicher fühlen. Wir sind dann ganz fließend in der Lage, uns ungezwungen und leicht in der Außenwelt zu bewegen, Kontakte zu knüpfen, offen auf andere Menschen zuzugehen, Konflikte zu lösen. Gleichzeitig können wir schnell einschätzen, ob sich unsere soziale Umgebung für uns sicher oder gefährlich anfühlt. So sehen wir unsere Mitmenschen meist nicht als Feind oder etwas Bedrohliches, sondern begegnen ihnen verständnisvoll, neugierig und mit offenem Herzen.
2. Sympathisch – Gefahr und Kampf oder Flucht
Der Sympathikus steuert bei Gefahr durch Mobilisierung unser ‚Kampf oder Flucht‘ Verhalten. Durch wahrgenommene Gefahr – Achtung, es muss keine tatsächliche Gefahr herrschen – werden hier primitive und ursprünglichere Mechanismen aktiviert um Flucht oder aggressives Kampfverhalten zu ermöglichen. Stresshormone werden ausgeschüttet und unsere Muskeln stellen sich durch Mobilisierung auf bevorstehende Gefahr ein.
Ist die Gefahr vorüber, entlädt sich optimalerweise die mobilisierte Energie. Dem Körper wird signalisiert dass wir wieder in Sicherheit sind. Stresshormone werden abgebaut, wir schalten zurück in den ventral-vagalen Modus. Dies geschieht durch Muskelaktivität wie Zittern oder Flucht, allgemein aber durch Bewegung und Aktion. Erfolgt kein Entladen der mobilisierten Energie, so schaltet unser Nervensystem bei jedem zukünftigen Trigger automatisch zurück in einen Modus von Flucht oder Angriff. Sehen wir in der Stressreaktion keine Möglichkeit des Angriffs oder der Situation zu entkommen, wird als letzte Stufe der dorsal-vagalen Modus mit Immobilität aktiviert
Geschieht keine Entladung, so schaltet unser Nervensystem bei jedem zukünftigen Trigger, der die automatische Reaktion auf Gefahr in uns hervorruft, wieder in diesen Modus – ganz ohne unseren willentlichen Einfluss.
3. Dorsal-Vagal – Immobilität, Erstarrung oder Dissoziation
Als das älteste und primitivste der drei Systeme schaltet sich der dorsal-vagale Modus ein, wenn wir weder über unser soziales System angemessen interagieren und uns dadurch in Sicherheit fühlen können, noch einen Ausweg aus der Gefahr durch Angriff oder Flucht sehen. Als Kinder können das zum Beispiel Orte wie die Schule oder unser zu Hause sein. Sehen wir keinen Weg, uns der Situation zu entziehen (die Situation scheint unausweichlich), und herrscht dort gleichzeitig kein Gefühl von Sicherheit (evtl, bei körperlichem oder emotionalem Missbrauch), schalten wir oft in einen Modus von Immobilität und Erstarrung. Die Folgen sind ein inneres Gefühl von Leere, emotionaler Taubheit, Abschalten, von sich getrennt fühlen (Dissoziation).
Immobilität Ist ein Überlebensmechanismus, und in Kombination mit Angst bildet sich Trauma.
Da Erfahrungen von Abweisung, körperlichem oder emotionalem Missbrauch oder Abweisung für Kinder besonders schmerzhaft und oft mit Scham behaftet ist, wird dieser Mechanismus gerne genutzt, um uns emotional von unserer Außenwelt abzutrennen und diesen Schmerz nicht mehr zu spüren.
Typische Anzeichen sind scheinbare Emotionslosigkeit, Probleme, angemessenes Empathievermögen zu entwickeln, eine eingesunkene Haltung, ein leerer Blick, ein emotionslos wirkendes Gesicht, inneres Kältegefühl, Depression, ein inneres Gefühl von Nebel im Kopf oder wie in einer Wolke zu sein, Dissoziation.
Balance der Polyvagalen Leiter bestimmt über Reaktion mit Stress oder Sicherheit
Bei traumatisierten Menschen ist das natürliche und reibungslose hin-und herpendeln innerhalb der Polyvagalen Leiter gestört.
Das Einspringen von Sympathikus und Parasympathikus als Antwort auf Gefahr oder Sicherheit ist evolutionär bedingt und ein ganz natürlicher Prozess. Optimalerweise agiert unser Nervensystem überwiegend über den zentralen Ast mit sozialem Engagement. Ausserdem sollten wir in der Lage sein, zwischen dem sympathischen und ventral-parasympathischen Nervensystem hin-und herzupendeln um angemessen auf Situationen zu reagieren. Es ist essentiell und überlebenswichtig, dass dieser Ablauf reibungslos funktioniert.
Bei traumatisierten Menschen ist dieser natürliche Prozess von Abwechslung und Balance gestört. So kann es passieren, dass wir in sicheren Situationen mit Gefahr reagieren. Dann nehmen wir übermäßig oft selbst in scheinbar harmlosen Situationen Gefahr wahr, fühlen uns in unserer Umgebung nicht sicher, können Freundlichkeit, Emotionen und Gesten nicht klar erkennen oder wollen selbst Nähe und Zuneigung von anderen nicht zulassen. Gleichzeitig ist es aber auch möglich, dass wir Warnsignale nicht klar deuten können und wiederrum anfälliger für ungesunde Beziehungen und Missbrauch sind.
In einem Modus, bei dem du auf Gefahr eingestellt bist wirst du gleichzeitig Reize aus der Umwelt viel stärker wahrnehmen als jemand der sich voll und ganz in Sicherheit fühlt. Wie durch eine Linse hast du dann einen Blick für mögliche Gefahrenimpulse und nimmst diese dementsprechend direkter auf. Gleichzeitig werden dabei äußere Reize aber auch wie du deine innere Welt wahrnimmst wie durch einen Filter stärker wahrgenommen. Ein Teufelskreis also, denn je nach dem in welchem Modus wir gerade sind, so nehmen wir auch uns selbst und unsere Welt wahr.
Natürliche Regulation der Polyvagalen Leiter
Wir wählen nicht bewusst darüber, in welchem Modus der polyvagalen Leiter wir uns befinden. Sie sind keine Option für uns, sondern laufen evolutionsbedingt und automatisch in unserem Körper ab. Was hilft also einem reguliertem Ablauf unseres Nervensystems, so dass ein müheloses hin- und herpendeln zwischen den Ebenen möglich ist und du schnell wieder in einen pro-sozialen und sicheren Modus wechseln kannst?
Zum Einen ist unsere Entwicklung in der Kindheit entscheidend darüber wie gut unsere Selbstregulation In der Gegenwart funktioniert. Sie wird geprägt durch früh gelernte Co-Regulation und gesunde Interaktionen wie Augenkontakt, Positionierung, Hilfe, Berührung oder Spiel mit unserer Umwelt. Eine gute Selbstregulation führt automatisch auch zu einer gesunden Resilienz, wodurch wir später besser mit Stress und Belastungen umgehen können.
Da dein Körper über dein Nervensystem mit Sinnesorganen, Herz, Lunge, Verdauungstrakt und Faszien im Erleben und der Verarbeitung von traumatischen Ereignissen involviert ist, können wir ihn genau über diesen Weg auch wieder regulieren. Signalisieren wir unserem Körper über unseren Körper dass wir in Sicherheit sind, so können wir aus der automatischen Trauma-Response herauskommen und wieder in einen Modus von ’sozialem Engagement und Sicherheit‘ gelangen.
1. Atmung reguliert das Nervensystem
Eine wunderbares Tool zur Selbstregulation ist unsere Atmung. Wenn wir unseren Fokus auf unsere Ausatmung und eine Atmung über unseren Bauch legen, wird unser parasympathisches Nervensystem aktiviert. Dieser Prozess signalisiert unserem Körper Sicherheit und Ruhe.
2. Bewegung
Jede Form von Bewegung hilft dir, um Energie in Bewegung zu bringen und Stress abzubauen. Spaziergänge in der Natur, Yoga, Qi Gong, Joggen und Schwimmen sind zum Beispiel super dazu geeignet.
3. Energetische Blockaden lösen
Traumatische Energie wird intuitiv oft unmittelbar nach dem Event durch intuitives Zittern entladen. Passiert dies nicht und bleibt die traumatische Energie durch welchen Grund auch immer im Körper, so wird dein System in Zukunft bei ähnlichen Erlebnissen jedes Mal wieder mit Gefahr reagieren.
Wichtig: Die Entladung von angestauter Energie sollte immer langsam und achtsam passieren. Tolle Wege dazu sind z.B. EFT (Emotional Freedom Technique), EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder TRE (Trauma Releasing Exercise).
4. Soziales Engagement hilft der Regulierung
Eines der wichtigsten Dinge zur Regulierung unsers Nervensystem ist soziales Engagement mit unseren Mitmenschen. Suche dir daher immer wieder Signale aus deiner Umwelt die dir ein sicheres Miteinander vermitteln. Das kann ein Lächeln sein, Blickkontakt, sanfte Berührung wie eine Umarmung von einem lieben Menschen, und natürlich viel Interaktion und Unterhaltungen mit Menschen.
5. Körperorientierte Traumatherapien
Meiner Meinung nach können wir Trauma nicht allein mit unseren Gedanken heilen. Die Polyvagal-Theorie greift die Prinzipien körperorientierter Traumaarbeit wie dem Somatic Experiencing von Peter Levine auf. Wie auch im Somatic Experiencing, gehen wir hier von einem automatisch ablaufenden Mechanismus unseres Körpers bei Stress und Gefahr aus – im Gegensatz zu Ansätzen die nur die mentale Ebene mit einbeziehen.
Wenn du unter Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidest, das Gefühl hast im Alltag immer wieder von äußeren Reizen getriggert zu werden oder dich scheinbar unnötig gestresst fühlst, macht es Sinn mit körperorientierten Traumaherapien wie Somatic Experiencing (SE) zu arbeiten. Auch die NARM Methode von Dr. Laurence Heller spezialisiert sich auf die Heilung von Entwicklungstrauma. Rolfing oder Feldenkrais können auch sehr gut bei den Folgen von emotionalem und physischem Traumata helfen um deinen Körper wieder in die Balance zu führen. Weitere Links findest du unten in den Ressourcen.
Ressourcen zur Polyvagalen Theorie nach Dr. Porges
- Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit: Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung – Dr. Steven Porges
- Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt – Dr. Peter Levine
- Your Body is Your Brain: Leverage Your Somatic Intelligence to Find Purpose, Build Resilience, Deepen Relationships and Lead More Powerfully (Englisch)
- Polyvagal-Theorie: Podcast auf Apple Podcasts
- Website von Justin Sunseri
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